Warum ich die „junge Welt“ abbestellte

Es gibt zwei Zeitungen, die ich nur streife, um zu wissen, was so alles in die Welt gesetzt wird. Die eine ist groß, die andere ist klein, die eine wird vielgekauft, die andere kämpft ums Überleben. Aber beide mühen sich, ihre Leserschaft straff auf Linie zu bringen, auf ihre. Dabei kennen sie nur Schwarz oder Rot, Gut oder Böse, Wir oder Ihr. Wie so oft im Leben, geifert die Kleine dabei noch giftiger, als die Große.

„BILD“ kommentiert ihre Anlässe. „junge Welt“ sucht Anlässe für ihre Kommentare. Gleichwohl überwiegt das Gemeinsame: Beide behaupten, sie seien die Wahrheit. Ich habe Reporterinnen und Reporter der „jungen Welt“ erlebt, ebenso Journalistinnen und Journalisten von „BILD“. Sie sind oft austauschbar.

Sicher hätte ich Gründe gehabt, seinerzeit die „junge Welt“ abzubestellen, schrieb mir jüngst deren Geschäftsführer. Aber bestimmt hätte ich inzwischen die Entscheidung noch mal bedacht und sei dabei hoffentlich zu neuen Erkenntnissen gekommen.

„BILD“ brauchte ich nie abbestellen. Warum ich mich von der „jungen Welt“ trennte, kann der folgende Artikel vom 21. 07. 2003 erneut illustrieren. Er gibt sich belesen und ist doch nicht mehr, als eine dümmliche Schmiere. Nicht, weil ich darin vorkomme. Sondern weil wieder einmal der arrogante „linke“ Hochmut seine Unwürdigen sucht, um sie allesamt lächerlich zu schreiben.

Aus: jW, 21. 07. 2003:

Wer früher stirbt, ist länger tot:
Wie Herbert Marcuse in Berlin beigesetzt wurde

Am Freitag wurde die Urne mit der Asche von Herbert Marcuse auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte vergraben. Marcuse wollte richtig leben, immerhin, richtig beigesetzt wurde er 24 Jahre nach seinem Tod. Das wußten auch alle Beteiligten, insofern war das eine unprätentiöse, eigentlich ziemlich lässige Angelegenheit.

Ursprünglich war nach seinem Tod, 1979 am Starnberger See, ein Marcuse-Kongreß geplant, aber Weihnachten 79 starb Rudi Dutschke. So erschien das Projekt als zu energiearm, hatte sich der nationalistisch-christliche Flachdenker doch immer als Marcuses Meisterschüler imaginiert, um von diesem in spezifischen Marcuse-Auslegungsfragen nie mehr als ein höhnisches "Ask Habermas!" („Frag Hambermas!“) zu hören. Marcuse selbst war an Jenseitigkeiten desinteressiert. In seinem Hauptwerk „Triebstruktur und Gesellschaft“ (1955) forderte er, Eros müsse Thanatos, den Todestrieb, besiegen. Ein Theoretiker der Tat. Anders als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno wollte er im postfaschistischen Deutschland nicht wohnen. Aber vielleicht nur deshalb, weil Horkheimer und Adorno ihn stets auf die Nummer drei der Frankfurter Schule zurechtstutzten. Das muß man auch mal positiv sehen: Er setzte nicht auf die Kraft der Negation, sondern auf Berufsoptimismus und wurde der einzige Vertreter der kritischen Theorie, der mit der neuen Linken offen sympathisierte. Schwer war das nicht. Marcuse mußte nur das offene Geheimnis ausposaunen, daß die einzig zulässige Praxis der kritischen Theorie nur die der Revolution sein kann. Wie man es früher auf Agitpropaufklebern lesen konnte: Laß dich nicht BRDigen!

Eben drum. Erst 2001 wollte ein Student von Marcuses Sohn Peter, emeritierter Professor für Stadtplanung in New York, wissen, wo sein Vater begraben liege. Genau darüber war sich die Familie nie einig geworden. Die Urne des 1979 in Österreich Eingeäscherten befand sich erst in der Abstellkammer eines reformjüdischen Bestattungsunternehmens in New Haven, Connecticut, bevor sie Peter Marcuse nach dem Tod von Marcuses dritter Ehefrau Ricky bei sich zu Hause plazierte.

Dieses Jahr wird er 75, sein Vater wäre am Samstag 105 geworden, da kommt einiges zusammen, sagt der Herausgeber des Marcuse-Nachlasses bei zu Klampen, Peter-Erwin Jansen. In nur drei Wochen hätte die Familie entschieden, Berlin bekommt das Marcuse-Grab, meint Harold Marcuse, Enkel von Herbert, Sohn von Peter, Dozent für deutsche Geschichte in Santa Barbara. Bedingung war allerdings ein Ehrengrab, der Senat hat akzeptiert. Heißt aber erst mal nur: Das Land Berlin übernimmt für 20 Jahre die Kosten. Herbert Marcuse ist in Berlin geboren, zur Schule gegangen, hier hat er seine erste Frau geheiratet, und Sohn Peter wurde dort geboren. 1934 waren Marcuses von den Nazis in Berlin gezwungen, sämtlichen Besitz billigst abzugeben, um mit einem Visum flüchten zu dürfen. Peter Marcuse empfindet das Ehrengrab als Ausdruck von Gerechtigkeit. Die Marcuseasche krümelt jetzt einen Pflastersteinwurf neben Hegel.

Den Weg ins Berliner Grab muß man sich so vorstellen: Punkt halb elf - offizieller Termin - schultert ein Anverwandter Herbert Marcuses seinen zirka zweijährigen Sohn, während ein streng kurzhaariger Friedhofsbediensteter, Anfang 20, in schwarz-grauem Anzug stechschrittartig, die schwarze Urne vor sich her tragend, aus der alten Friedhofskapelle hervorparadiert, die 50köpfige Beerdigungsgesellschaft formiert sich hinter ihm. Zum kleinen Grab auf dem überfüllten Prominentenfriedhof sind es drei Minuten gemäßigter Weiheschritte. Vorbei an der Straße der DDR-Besten: Weigel/Brecht, Heinrich Mann, Johannes R. Becher. Da schweigt sogar die ansonsten beiläufig dies und das schnatternde, aber schwer verlegene PDS-Delegation aus Petra Pau, Thomas Flierl, Heinrich Fink samt Anhang.

Am Grab dominiert das schwarzgewandete Grauhaarigentum ab 50. Eine Seite stille Familie-Freunde-Dabeiseinmüsser, eine Seite wispernde Journalisten. Ein einziger - graumelierter - Langhaariger ist zu sehen, mit schwarz-rotem Stern am grauen Jacket. Und ein Typ mit lackierten Fußnägeln in Sandalen, großer Zeh lila, der Rest pink. Peter Marcuse murmelt eine kaum zu verstehende Ansprache, Harold kommt hinzu, wird von seinem Vater hüfthoch umarmt, spricht davon, daß Utopie, Revolution, Leben und Tod ein Prozeß seien, mehrfach: ein Prozeß, ein Prozeß, ein Prozeß. Okay. Was soll man sonst sagen? Moishe Postone tritt hervor, stimmt das Kaddisch, das jüdische Trauergebet, an, die einzige anwesende Marcuse-Studentin aus den USA, Angela Davis, bewegt dazu die Lippen. Im Vorfeld hatte Peter Marcuse das Kaddisch abgelehnt, weil sein Vater sich für Religion nicht interessiert habe. Petra Pau guckt dazu noch fassungsloser dämlich als sonst. Anschließend Erdewerfen auf Marcuseasche. Die mit ihrem SAT1-Anchorman aufgetauchte Georgia Tornow ruft tatsächlich „Tschüß“, während Eva Quistorp statt dessen wortlos eine aus vollgestopften durchsichtigen Plastiktüten hervorgezogene Sonnenblume ans Grab lehnt, denn sie hat die Grünen mitbegründet, wie sie mir später mitteilt. Marcuse zwar definitiv nicht, aber die Sonnenblume sei auch ein Symbol der kalifornischen Bewegung gegen Atomwaffen gewesen. Sollte auf jeder „Rama“-Packung vermerkt werden.

Im Versammlungssaal des Brecht-Hauses eröffnet Peter Marcuse wenig später ein sogenanntes Roundtable-Gespräch, bei dem alle irgendwie unhierarchisch in der Mitte sitzen. In der wahren Mitte steht das Kamerateam. Er verliest ein sympathisches Limerick („there was a philosopher called Herbert / the school he belongs to was Frankfurt“) in der Meinung, damit alles gesagt zu haben. War auch so, denn problematischerweise besteht schon seit Jahren die meiste Politik der radikalen Linken in Deutschland aus dem Erzählen von Anekdoten. Der bewußt privatistisch gehaltene Rahmen der Marcuse-Beerdigung transzendiert diese historische Schwäche in Richtung einer charmant-ehrlichen, küchenpartyähnlichen Materialsammlung, die auf jeden Fall besser ist als pathetisches Immer-voran-Gequatsche. Sozusagen die große Weigerung gegenüber einer Marcuse-Heiligungsindustrie, die es aber gar nicht gibt.

Harold Marcuse trägt einen Brief vor, den er als 16jähriger an eine konservative US-Zeitung schrieb, um klarzustellen, daß Herbert Marcuses Intention sich folgendermaßen zusammenfassen ließe: „to change the system without burning the books“ („Das System ändern, ohne Bücher zu verbrennen“). Peter-Erwin Jansen liest einen Brief Marcuses an Leo Löwenthal frisch aus dem US-Exil 1934, in dem er feststellt: „Englisch ist eine beschissene Sprache. Ich sage immer, wenn ich nichts verstehe: allright.“ Barbara Brick vom Frankfurter Marcuse-Archiv erinnert daran, daß Marcuse in den 70ern in Diskussionen über den Feminismus sehr geduldig gewesen wäre, nicht aber, wenn es um das Verhältnis von Theorie und Praxis ging, dann hätte er wie verwandelt ausgerufen: „Scheiße, das kann man so nicht sagen!“ Angela Davis erzählt larifarisch, wie tief Marcuse sie beindruckt hätte und so weiter, bis Peter Marcuse darauf aufmerksam macht, daß Marcuses recht klein gehaltener Grabstein noch keine Inschrift trägt. Analog zu Brechts alten Grabstein-Wünschen wäre Herbert Marcuse eventuell mit diesem Vorschlag beizukommen: „Er hatte recht. Und wir haben es bemerkt.“

Und dazu wurde von sehr vielen Leuten in einem kleinen Raum sehr viel geschwitzt. Herbert Marcuse schrieb in „Versuch über die Befreiung“ (1969): „die Konterrevolution ist in der Triebstruktur verankert“.
 

 

 

26.7.2003
www.petra-pau.de

 

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