Erinnerungskultur muss Menschenrechte stärken

Internationales Symposium „zur Erinnerung an den Holocaust und zum Kampf gegen Antisemitismus“ in Krakau, 26. Januar 2010
Rede von Petra Pau

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1. „Auschwitz“ ist ein Synonym. Ein Synonym für Massenmord. Ein Synonym für einen einzigartigen Völkermord.

Millionen Jüdinnen und Juden wurden ermordet. Sie wurden erschossen oder vergast, nur weil sie Juden waren.

Nicht nur in „Auschwitz“. Der Holocaust fand in nahezu allen europäischen Staaten statt, an namhaften und an weniger bekannten Orten.

Jüdische und nichtjüdische Organisationen haben vorige Woche in Berlin angeregt, bislang anonyme Massengräber endlich zu bewahren.

2. Ich bin Berlinerin. In meiner Stadt wurde die Vernichtung aller Jüdinnen und Juden geplant, beschlossen und koordiniert.

Zahlreiche Gedenkstätten erinnern daran: An den unvergleichlichen Völkermord, aber auch an den mutigen Widerstand im Kleinen.

Genannt seien das „Haus der Wannsee-Konferenz“, die „Topografie des Terrors“ und das „Mahnmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden“.

Aber auch die Skulptur, die an die "Fabrik-Aktion" in der Rosenstraße erinnert. Dort retteten 1943 mutige Frauen das Leben ihrer jüdischen Männer.

3. Seit 1996 findet jeweils am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von „Auschwitz“, im Deutschen Bundestag eine Gedenkstunde statt.

Zur Erinnerung und Mahnung erhalten dabei Überlebende des Holocaust das Wort. Gut in Erinnerung ist mir Imre Kertész.

Der Literatur-Nobel-Preisträger warnte in seiner Rede: Das vormals Undenkbare, das einmal geschah, kann wieder geschehen.

Ich halte das für einen zentralen Gedanken, wenn es um Erinnerungskultur geht. Das einmal Geschehene darf sich nie wiederholen!

Deshalb reicht es auch nicht, die Stätten des industriellen Völkermords besonders hervorzuheben und der Opfer zu gedenken.

Der Holocaust begann scheinbar klein, im Alltag, inmitten der Gesellschaft. Er wurde in den Köpfen vermeintlich Unbeteiligter vorbereitet.

Zunehmend galten Juden als minderwertig. Sie wurden ausgegrenzt, als Aussätzige behandelt und als Fremdkörper markiert.

Erst nachdem diese Diskriminierungs-Spirale von der Bevölkerung nahezu widerstandslos akzeptiert wurde, begann das Massenmorden.

Diese Geschichte führt logisch zu dem bekannten Satz: „Wehret den Anfängen!“ Er sollte auch die Erinnerungskultur heute prägen.

4. Ich will dazu ein Erlebnis schildern. In Deutschland gibt es eine Wanderausstellung über das Leben der Anne Frank.

Es ist eine moderne Ausstellung, mit Videos und interaktiven Elementen. Jugendliche können sich so gut in das Geschehen hineindenken.

Das ist hilfreich für den Kopf. Aber es berührt nur selten das Herz der jungen Besucherinnen und Besucher.

Das eigentlich Spannende war: Die Ausstellung wurde von 16- und 17-Jährigen betreut, also von nahezu Gleichaltrigen.

Und ihre Gespräche begannen nicht im Damals, was für viele einem fernen Jenseits gleichkommt. Es ging um den Alltag heute.

Man sprach über Ausgrenzung auf dem Schulhof, über mangelnden Respekt gegenüber Anderen, über allzu gewöhnliche Diskriminierungen.

So angerührt, sahen die Schülerinnen und Schüler die Geschichte der Anne Frank plötzlich mit eigenen Augen.

Sie ahnten, warum das einmal Geschehene durchaus wieder geschehen kann, wenn sie selbst nicht dagegen aufbegehren.

5. Und wo gibt es sie nicht, die alltäglichen Ausgrenzungen? Nur weil Menschen anders leben, anders lieben, anders sind.

Ich erinnere nur an Sinti und Roma in osteuropäischen Staaten. Oder an die Volksabstimmung in der Schweiz gegen Minarette.

Wir erfahren, dass Überlebende des Holocaust erneut als Vaterlandsverräter angeprangert werden, zum Beispiel in Ungarn.

Wir erleben Rassismus in Fußball-Stadien. Und wir wissen, wie Asylsuchende selbst von Amts wegen oft als minderwertig behandelt werden.

Oder denken wir an Papst Benedikt XVI,, der die Pius-Brüder wieder salonfähig gemacht hat, obwohl sie den Holocaust leugnen.

6. Ich gehöre - wie die meisten Menschen heute - einer Generation an, die keinerlei Schuld an den Verbrechen des NS-Regimes hat.

Man sollte auch nicht versuchen, nachkommenden Generationen irgendwelche historischen Schuldkomplexe aufzuladen.

Das trifft übrigens auch, um über die Bundesrepublik Deutschland zu sprechen, auf die zahlreichen Migrantinnen und Migranten zu.

Viel wichtiger ist die einfache und zugleich weitreichende Frage: Wie wollen wir Leben, respektvoll miteinander und solidarisch füreinander?

Das ist mein zentrales Anliegen, wenn es um Erinnerungskultur geht. Oder anders gesagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar, aller Menschen!

Dieses Gebot aus der allgemeinen Menschenrechtskonvention ist nicht eingelöst. Auch das anzumahnen, gehört zur Erinnerungskultur.
 

 

 

26.1.2010
www.petra-pau.de

 

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