Aktuelle Notiz: NSU, VS - worüber reden wir?

von Petra Pau
Berlin, 13. Juli 2012

1. 

Seit die NSU-Nazi-Mordserie am 4. November 2011 publik wurde, geraten die Ämter für Verfassungsschutz immer mehr in die Bredouille. Inzwischen traten drei VS-Chefs zurück: Heinz Fromm im Bund, Thomas Sippel in Thüringen, Reinhard Boos in Sachsen. Ihre Begründungen klingen jeweils ähnlich. Sie wurden vom „eigenen“ Amt getäuscht.

2. 

Das haben Geheimdienste so an sich. Innere Transparenz gefährdet, äußere Transparenz zerstört, beides zusammen verrät das Amt. Das macht auch Geheimdienstchefs zu Deppen. Nachfolger genauso, wie Vorgänger. Deshalb greifen Personal-Debatten viel zu kurz. Der Verfassungsschutz selbst steht in Frage und zur Disposition.

3. 

Allemal ob der gern verbreiteten Mär, der „Verfassungsschutz“ werde parlamentarisch kontrolliert. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Der VS kontrolliert Parlamentarier. Obendrein werden Abgeordnete, die sich als erkorene Kontrolleure des Geheimen wähnen, flugs in dessen Krämerei eingebunden: durch unbedingte Schweigepflicht, strafbedroht.

4. 

Nach allem, was die parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschüsse bislang erhellen konnten, zeichnet sich ab: Der Verfassungsschutz war näher an der Nazi-Szene dran, als eingestanden wurde. Und er hielt mehr Erkenntnisse zurück, als für Ermittlungen unabdingbar gewesen wäre. Er ist demnach Teil des NSU-Debakels, nicht dessen Lösung.

5. 

Und das in einer jahrelangen Mordserie, bei der neun Menschen regelrecht hingerichtet wurden - aus germanisch-rassistischen Motiven. Von einem Nazi-Trio, das schon vordem militante Anschläge ausführte und trotzdem äußerst mysteriös abtauchen konnte. Aus einer Nazi-Szene, die sich nachweislich aufrüstet.

6. 

Ein Verfassungsschutz, der das nicht mitbekommt, ist überflüssig. Ein Verfassungsschutz, der das hinnimmt, ist gefährlich. So oder so hat er nichts mit dem Schutz von Verfassungsrechten zu tun. Er heißt nicht nur falsch, er ist falsch. Er ist eher Feuer, denn Wehr, und mithin keine Feuerwehr, wie manche verharmlosen.

7. 

Warum hält die regierende Politik dennoch vehement an Behörden fest, die sich so gravierend als „untauglich“ erweisen? Wahrscheinlich hat Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) Recht. Der Verfassungsschutz ist ein „Kind des kalten Krieges“. Und der scheint in manchen Köpfen noch immer nicht vorbei zu sein.

8. 

Ex-Verfassungschef Peter Frisch erklärte mir 2012 in einer TV-Sendung, dass ich und Ossis selbstverständlich unter besonderem Verdacht stehen. Weil wir Ossis sind! Schlimmer noch: Antifaschisten gelten als kriminelle Vereinigung, Nazis werden als V-Leute entlohnt. Wohin das Pendel schlägt, das entscheidet ausgerechnet der dubiose VS.

9. 

Das ist Bundespolitik! Ansonsten kneift sie. Nie hat sie bisher ernsthaft gefragt: Wie konnte es zu der NSU-Nazi-Mordserie kommen? Warum haben die Sicherheitsbehörden total versagt? Und was läuft generell politisch falsch? Es gibt Seismografen, die seit langem warnen: Das Konfliktpotential wächst und zwar gesellschaftlich kreuz-gefährlich.

10. 

Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu. Die Solidarität schwindet. Gewalt wird zunehmend akzeptiert. Das ist die Expertise einer wissenschaftlichen Langzeitstudie über „Deutsche Zustände“. Als Ursache wird benannt: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie entleert. - Und obendrauf kommt aktuell die so genannte EU-Krise...
 

 

 

13.7.2012
www.petra-pau.de

 

Seitenanfang

 

Übersicht

 

Reden & Erklärungen

 

Lesbares

 

Startseite