Ihre Flucht wäre unser Armutszeugnis

Bundestag, 17. Oktober 2012, Plenardebatte zum Antisemitismus-Bericht
Rede von Petra Pau

1. 

Zur Erinnerung: Ignaz Bubis war jahrelang Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er starb 1999. Sein Resümee war bitter (Zitat):
„Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden, weghaben.
Ich habe gedacht, vielleicht schaffst du es, daß die Menschen anders über einander denken, anders miteinander umgehen.
Aber, nein, ich habe fast nichts bewegt.“

 
Bubis ließ sich in Israel beerdigen. Aus Angst, sein Grab werde in Deutschland geschändet, wie das von Heinz Galinski. Weil er Jude war.

2. 

Diese Geschichte fiel mir jüngst wieder ein.
Ein Rabbi wurde im Beisein seiner Tochter krankenhausreif geschlagen, weil er Jude ist. Ein Taxi-Fahrer verweigert einer Familie die Fahrt zur Synagoge. Beides geschah 2012 in Berlin.
In Göppingen skandierten Nazis: „Ein Baum, ein Strick, ein Judengenick!“ Die Polizei griff nicht ein. Ich könnte die Beispiele fortsetzen.

3. 

Der Bundestag hatte im November 2008 einen Beschluss gefasst:
„Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern.“ Auch ich hatte damals dafür geworben.
Beschlossen wurden sieben konkrete Aufträge an die Bundesregierung. Sieben! Über einen davon reden wir heute: Über die Analyse einer Experten-Kommission zum Antisemitismus in Deutschland.
Nicht dringlich, sondern erst fast ein Jahr danach. Ich bedauere das.

4. 

Eine zentrale Aussage der Expertise sagt: Nazis und Judenhass gehören zusammen. Nicht als Verweis auf vorgestern, sondern auf heute.
Kurzum: Gegen Antisemitismus heißt primär gegen Rechtsextremismus!
Aber der Bericht belegt auch: Juden-Feindlichkeit gibt es quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und politische Lager.
Deshalb mahne ich: Wer das partei-politisch ausschlachten will, hilft letztlich nur Antisemiten. Wir müssen Antisemitismus partei-übergreifend ächten - und viel mehr für die Prävention tun.

5. 

Im Bericht werden ausführlich Quellen und Formen von altem und neuem Antisemitismus beschrieben. Er grassiert beim Sport, in Medien, auf Schulhöfen, unter Deutschen und Migranten, in Ost und West.
Dass er anderswo stärker ausgeprägt ist - ich verweise auf Ungarn - sollte uns endlich beunruhigen. Antisemitismus ist ein drängendes EU-Thema. Aber er bleibt dennoch ein nicht delegierbares deutsches Problem.

6. 

Es gibt engagierte gesellschaftliche Initiativen gegen Antisemitismus.
Die „Antonio-Amadeu-Stiftung“ und die Initiative „Gesicht zeigen“ oder das Web-Portal „Hagali“ gehören zu den bekannteren.
Die „Schwarzkopf-Stiftung“ bringt Jugendlichen den europäischen Gedanken und zugleich den Kampf gegen Antisemitismus nahe.
Anwärterinnen und Anwärter der Berliner Polizei pflegen Patenschaften zum „Denkmal an die Kindertransporte 1938/39“ und zu noch Lebenden der damals so geretteten Jüdinnen und Juden. So weit, so beispielhaft.

7. 

Zugleich gibt es immer mehr Initiativen gegen Antisemitismus, die finanziell ausbluten, weil sie bundespolitisch allein gelassen werden. Wir kennen das aus Berlin-Kreuzberg. Ähnliche Beispiele gibt es vielerorts. Hehre Beschlüsse hie, eine verheerendes Versagen da.
Das muss sich ändern. Das müssen wir im Bundestag ändern!

8. 

Das mahnende Fazit im Expertenbericht lautet: Es gibt kein schlüssiges Gesamtkonzept gegen Antisemitismus. Gemeint ist die Bundespolitik.
Ich finde: Dasselbe trifft auf den Kampf gegen Rechtsextremismus zu.
Es ist also höchste Zeit, dass wir heute über den Bericht reden.
Aber es hilft niemandem, wenn das folgenlos bleibt.

9. 

Deshalb schlage ich vor:
Erstens: Das Mandat für die unabhängige Experten-Kommission ist zu verlängern, verbunden mit hinreichenden Arbeitsbedingungen.
Zweitens: Das gesellschaftliche, wissenschaftliche und staatliche Engagement gegen Antisemitismus muss endlich koordiniert werden.
Drittens: Das Thema Antisemitismus sollte in der Ausbildung von Pädagogen, Journalisten, Polizisten oder Juristen viel präsenter sein.
Viertens: Die europäische Dimension des Antisemitismus muss stärker eingeblendet und als gemeinsames Problem angenommen werden.
Fünftens: Gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sind endlich verlässlich zu fördern.

10. 

Drei Schluss-Sätze: Ich weiß, dass ob der jüngsten Vorkommnisse Jüdinnen und Juden erwägen, Deutschland zu verlassen. Ihre Flucht wäre unser aller Armutszeugnis. Umso mehr werde ich als Linke weiter Antisemitismus bekämpfen und jüdisches Leben fördern.
 

[download] Stenographischer Bericht, pdf-Datei

[als Video bei YouTube]

 

 

17.10.2012
www.petra-pau.de

 

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